Untersuchungsbericht „Attentat Estermann“, Vatikan

Aufschluss über die Untersuchung

wegen des Todes des neuernannten Kommandanten der Päpstlichen Schweizergarde, Oberst Alois Estermann, seiner Frau Gladys Meza Romero und des Vizekorporals der Garde, Cédric Tornay, eingetreten am Abend des 4. Mai 1998.

Informazioni sull’istruttoria relativa alla morte, la sera del 4 maggio 1998, del neo commandante della guardia svizzera pontificia col. Alois Estermann, di sua moglie signora Gladys Meza Romero e del vice caporale della guardia Cédric Tornay.

Der Untersuchungsrichter des Vatikangerichtes, Advokat Gianluigi Marrone, hat mit Dekret vom 5. Februar 1999 die

Archivierung der Akten wegen des Todesfalles

des Neu-Kommandanten Oberst Alois Estermann, seiner Ehefrau Gladys Meza Romero und des Vizekorporals Cédric Tornay, eingetreten am Abend des 4. Mai 1998, veranlasst. Der Untersuchungsrichter hat damit die These des Staatsanwaltes, Prof. Nicola Picardi angenommen, der am letzten 1. Februar beantragt hatte, dass „keine Strafaktion einzuleiten sei“, dies auf Grund einer sorgfältigen Voruntersuchung, begleitet von zahlreichen Gutachten, Verhören von Zeugen und beweisenden Gegenüberstellungen. In diesem Sinne unterbreitete er dem Richter einen umfangreichen Bericht mit Hinweisen auf die gesamte Dokumentation, erarbeitet während der neun Monate dauernden Untersuchungen.

Im Besonderen hat

der Staatsanwalt zehn Gutachten veranlasst:

Leichenschau, Anatomie, Histologie (Lehre von den Geweben des Körpers), Giftwesen, Ballistik (Lehre von der Bewegung geschleuderter oder geschossener Körper), Grafik und Telefontechnik. Für die Expertisen sind erprobte Spezialisten beauftragt worden, so Prof. Piero Fucci von der Universität Tor Vergata in Rom, Prof. Giovanni Arcudi von der gleichen Universität, Prof. Claudio Gentile von der Universität Messina, Dr. Carmelo Furnari, Dr. Valeria Mattei Perrone usw., fünf Rapporte der Strafpolizei durch den Generalinspektor des Aufsichtskorps, 38 Verhöre von informierten Personen, zahlreiche Auskünfte und Rapporte von öffentlichen Ämtern des Vatikanstaates und der schweizerischen Bischofskonferenz sowie verschiedene fotografische Aufnahmen und technische Hinweise. Er ist somit zum Schluss gelangt, dass das Ehepaar Estermann von Vizekorporal Cédric Tornay ermordet worden ist, und dass sich letzterer mit derselben Ordonnanzpistole das Leben genommen hat.

Es folgen nun einige

Auszüge aus den Seiten des abschliessenden Berichtes

den der Staatsanwalt Prof. Nicola Picardi dem Untersuchungsrichter, Advokat Gianluigi Marrone, eingereicht hat:

In seiner Aussage vom 7. Mai 1998 (Dok. 3) hat

Herr … von Orvieto, Freund der Estermanns

erklärt: „Am Abend des 4. Mai 1998, um 20.46 Uhr, habe ich in die Wohnung Estermanns telefoniert, um zur Ernennung zu gratulieren und die befreundeten Eheleute zu grüssen … über die Uhrzeit meines Telefongesprächs bin ich sicher, habe ich doch meine Pendeluhr eben angeschaut und sie zeigte 20.46 Uhr. Frau Gladys hat sich gemeldet und ich habe mich mit ihr in einer heiteren und ruhigen Konversation von einigen Minuten unterhalten. Unter anderem haben wir über die Gesundheit gesprochen, da ich erkältet war und Frau Estermann hat mir gesagt, dass ihr Mann an der gleichen Krankheit leide. Ich habe ihr sogar gewisse Pillen empfohlen, Ventolin. Die Frau zeigte sich interessiert und hat den Namen des Produkts wiederholt, um sich nicht zu irren, und hat gesagt, sie hätte ihn ihrem Mann mitgeteilt. Danach, immer in heiterer Stimmung, hat sie ihren Mann ans Telefon gerufen, damit ich ihm die Glückwünsche persönlich übermitteln konnte. So habe ich mit Alois gesprochen, der, wie immer, etwas reservierter war als die Frau. Das Gespräch war äusserst freundlich und wickelte sich in Spanisch ab. Dann haben wir von der Zeremonie des Eides gesprochen und der Möglichkeit für mich, mit meiner Frau und meiner 4-jährigen Tochter dabei sein zu können, deren Paten die Estermanns sind. Alois hat mir sogar erklärt, wo ich hätte das Auto parkieren können. Danach sprachen wir vom Wetter, das sich, gemäss den Nachrichten, nicht gut ankündigte, während Alois vertrauensvoll sagte, dass es am 6. Mai sicher schön sei. In diesem Moment habe ich eine Unterbrechung wahrgenommen, wie wenn der Hörer auf die Brust oder auf etwas Weiches auffallen würde. Wenige Zeit danach habe ich im Hintergrund Stimmen gehört, wovon die eine von Frau Estermann, dann ein anderes Geräusch und einen harten Schlag, dem in kurzer Reihenfolge ein anderer Schlag folgte und andere Schläge  weiter entfernt. Ehrlich gesagt habe ich nicht an Schüsse gedacht, auch wenn der erste wirklich einem Revolverschuss glich. Ich dachte, dass sie irgendein Problem hätten, vielleicht einen wichtigen Besuch, dass der Hörer mit einer gewissen Wucht gefallen sei. So habe ich aufgehängt mit dem Gedanken, dass wir uns in einem anderen, günstigeren Moment wieder hören.“

Aus dieser Erklärung und aus dem Vorhergehenden kann abgeleitet werden, dass sich in der Wohnung im Moment der Schüsse zweifellos das Ehepaar Estermann und Tornay befanden, während die Angehörigen des Obersten eben im Ulmenhof angekommen waren (Aussage vom 23. Juni  1998, Dok. 52).

Das untersuchende Büro hat sich in diesem Punkt die Frage gestellt, ob sich im Moment der Schüsse

eine vierte Person in der Wohnung der Estermanns

aufgehalten habe (oder sogar mehrere Personen), eine Möglichkeit, die von einigen aufgeworfen wurde.

In diesem Zusammenhang ist es nützlich vorauszuschicken, dass das Schweizerquartier von aussen nicht einfach zu erreichen ist, da ein erster Wachtposten der Schweizergardisten am St.-Anna-Eingang zu passieren ist, und dann ein zweiter Posten, der von den Beamten der Aufsicht bewacht ist. Dieser befindet sich sofort nach dem ersten. Demnach ist es unwahrscheinlich, dass Fremde in das Quartier eintreten, ohne beobachtet zu werden, auch zu jener späten Stunde. Es ist zu beachten, dass die Ankunft der Verwandten des Obersten Estermann, wie schon vorgängig erwähnt, bereits beachtet worden war.

Damit kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine eventuelle vierte Person ein Ansässiger des Schweizerquartiers sein könnte. Die mögliche Gegenwart einer weiteren Person, sei dies eine ansässige oder eine fremde Person, wäre unter anderem im Inneren des Quartiers leicht beachtet worden wegen der reduzierten Grösse des Quartiers, das eher einem Wohnblock gleicht, und wo sich alle kennen und wo sich alle sehen können. Der Beweis dafür ist die Leichtigkeit, mit der das Untersuchungsbüro es zustande brachte, alle Schritte Tornays von seiner damaligen Rückkehr vom Verstellen (Ehrendienst/Kontrolldienst) in der Synode bis ins Innere des Quartiers zu rekonstruieren. Unter dieser Voraussetzung muss man nochmals erinnern, dass Tornay zum 3. Mal ein paar Minuten vor 20.59 Uhr Wachtmeister … in der zweiten Unterführung begegnet ist (Dok. 26 und 78/A) und Korporal … (Dok. 27). Er trug die schwarze Lederjacke, die dann auch auf dem Toten vorgefunden wurde, und er war allein. Der … und der … haben beobachtet, dass Tornay den Ehrenhof durchquerte und sich in die erste Unterführung begab, wo sich das Kommando und der Offizierstrakt befinden, und der Weg dann in den Ulmenhof mündet. Wie schon bemerkt, sind die beiden Unterführungen (Kantine und Kommando) nicht gradlinig zueinander. Die beiden Zeugen haben den Vizekorporal nur bis zum Eingang in die erste Unterführung verfolgen können.

Theoretisch hätte Tornay die vierte Person am Eingang des Offizierstrakts antreffen und mit ihr die Treppe hochsteigen können bis zur Wohnung der Estermanns. Aber Ordensschwester …, die wie nachgeprüft, Tornay einige Sekunden voraus war und den Lift genommen hatte, hat genau angegeben, dass die Schritte auf der Treppe einer  einzigen Person gehörten (Verhör vom 26. Mai 1998, Dok. 36).

Es bleibt daher keine andere Möglichkeit, als dass sich der vierte Mann schon auf dem Treppenabsatz oder gar schon im Innern der Wohnung Estermanns befand.

Die erste Möglichkeit muss verworfen werden, da die Schwester …, die einige Sekunden vorher eingetreten war, die eigene Haustür offen gelassen hatte, schwere Schritte auf der Stiege hörte, und erst dann die Tür schloss. Wenn sich in dieser Zwischenzeit jemand auf dem Treppenabsatz aufgehalten hätte, hätte ihn die Schwester unumgänglich sehen müssen.

Auch die zweite Möglichkeit ist nicht annehmbar, d. h., dass sich die vierte Person schon im Innern der Wohnung Estermanns befunden hätte. Abgesehen davon, dass die Estermanns ein sehr zurückgezogenes Leben führten und nicht die Gewohnheit hatten, fremde Leute in ihre Wohnung einzuladen (um so weniger an jenem Abend, wo sie in Erwartung der Verwandten waren), die Enge der Zimmer hätte die Anwesenheit einer vierten Person im Studio nicht erlaubt, und vor allem hat man keine Spuren von Handgemenge entdeckt. Jedes Ding war an seinem Ort, ausser dem Telefon, dessen Hörer nicht aufgelegt war (Rapport der ersten Untersuchung an Ort und Stelle vom 4. Mai 1998, Dok. V).

Die vermutete vierte Person hätte jedoch nicht aktiv am Verbrechen teilnehmen können, weil die Schüsse, wie aus dem Folgenden ersichtlich, alle aus der Pistole des Vizekorporals geschossen wurden, und die chemisch-physikalische Expertise für die Nachforschung von Schussspuren (C. D. Paraffin-Handschuh) hat gezeigt, dass Tornay die Pistole ergriffen und den Abzug gezogen hat. Es hätte sich somit nur um einen Zeugen handeln können, der sich passiv verhalten hätte, und der nach dem Verbrechen aus der Wohnung geflohen wäre oder sich in einem anderen Zimmer der Wohnung versteckt hätte.

Nach Ansicht dieses Amtes sei es auszuschliessen, dass der vermutete vierte Mann nachher sofort geflohen wäre. Es ist wahr, dass die Wohnungstür von Estermanns offen vorgefunden wurde. Die Ordensschwester war die erste, die nach dem Geschehen herbeilief. Dieser Umstand deutet nicht unbedingt auf eine überstürzte Flucht hin. Die Experten haben schon zwei Möglichkeiten vorgebracht. Die erste Möglichkeit: Die Tür war schon offen, als Tornay eintrat, was nicht unbedingt auszuschliessen ist, dank der sicheren Umgebung, in der sich das Haus befindet. Denken wir daran, dass auch die Schwester ihre Türe offen gelassen hatte nach ihrem Eintritt. Die andere annehmbare Möglichkeit aber ist jene, gemäss welcher Frau Estermann die Tür geöffnet hätte, um sich in diesem Moment die nicht gerade Vertrauen einflössende Figur Tornays gegenüber zu finden. Im engen Gang in Richtung Studio hätten Tornay drei Schritte genügt, um den Obersten, der telefonierte, zu erreichen. Die Frau hätte, einesteils wegen der Überraschung, andernteils wegen der Schnelligkeit der Aktion, aber vielleicht auch, um sich eine Öffnung gegen aussen abzusichern, damit sie hätte Hilfe rufen können, mit grosser Wahrscheinlichkeit die Tür hinter Tornay nicht geschlossen. Der Umstand, dass die Tür während der ganzen Aktion offen bleib, ist unmissverständlich bewiesen, und das wird man im Folgenden besser sehen, da der dritte Schuss, der das Ziel verfehlte, an der Glastür des Studios und an der Wohnungstür vorbei gepfiffen ist (beide Türen waren also offen), um dann in den Rahmen der Lifttür einzuprallen.

Die eventuell überstürzte Flucht des vierten Mannes wird im Übrigen von einer Reihe von Umständen widersprochen: Die Schwester … hat vor allem gesagt, dass „dem Lärm eine absolute Stille gefolgt sei“ (Dok. 36) und der … hat bestätigt, dass nach den Schüssen Stille gewesen sei (Dok. 54).

Zweitens ist die Schwester sofort nach den Schüssen auf den Treppenabsatz gekommen, ging hinunter, um Hilfe zu holen, nachdem sie durch die offene Türe Frau Estermann zusammengesunken sah (Dok. 36).

Frau … ihrerseits (Verhör vom 23. Juni 1998, Dok. 52) hat unterstrichen, dass sie wenige Zeit vorher in die Passage zwischen den beiden Höfen gegangen sei, aber dort niemanden gefunden habe, weder in der Passage noch im Hof, danach sei sie gegen ihre Wohnung gestiegen. (im 1. Stock) und habe die Schwester angetroffen, die vom 2. Stock kam.

Daraus geht hervor, dass sofort nach den Schüssen niemand aufgefunden worden ist, weder im Wohnungseingang der Estermanns noch im Stiegenhaus, weder in der Passage noch im Hof. Wenn sich andere Personen im oberen Teil der Treppe oder auf dem Treppenabsatz des dritten und letzten Stockes versteckt hätten, wären sie nachträglich gesehen worden, nicht nur von der Schwester … und von Frau …, sondern auch vom …, der, wie bekannt, im 3. Stock wohnt, und der sofort in den unteren Stock kam (Rapport des Majors der Schweizergarde, Dok. XVI, Seite 2), und von den vielen Personen, die in der Zwischenzeit angelaufen kamen.

Es ist praktisch unmöglich, dass sich Dritte in der Wohnung Estermanns versteckt hätten. Man beachte, dass Vizekorporal …, von der Schwester … gerufen, der erste war, der sich an den Tatort begab, um Hilfe zu bringen und sich des Blutbades zu vergewissern: „Ich habe Schiesspulver gerochen und habe verstanden, dass hier geschossen worden ist …, ich habe noch nie so viel Blut gesehen.“

Der … hat die ersten Personen, die nach und nach herankamen und die er antraf, aufgezählt (…). Wenn ein Fremder darunter gewesen wäre, hätte er ihn sicher entdeckt. Auch die Leute, die nachher herströmten, hätten keine Verdächtigen bemerkt. (Der Unteroffizier der Garde …, Aussage vom 23. Juni 1998, Dok. 53, der Arzt der Garde, …, Rapport I und der Oberaufseher des Aufsichtskorps …, Aussage vom 20. Mai 1998, Dok. 31).

Letztlich, aber nicht zuletzt, hat man auch

von vier frisch gebrauchten Gläsern

gesprochen, die auf die Möbel am Tatort abgestellt worden wären. Aber weder bei der Tatbestandsaufnahme (Dok. I, V,IX und Dok. 23) noch anlässlich der detaillierten fotografischen Aufnahmen kommen die auf die Möbel gestellten Gläser zum Vorschein. Dieses Amt hat am 16. Mai 1998 die Siegel entfernt und nochmals eine sorgfältige Bestandesaufnahme durchgeführt. Aus dem entsprechenden Rapport (Dok. 23) geht hervor, dass sich weder im Studio, wo sich das Verbrechen abgespielt hatte, noch im anliegenden Speisezimmer Gläser befanden.  Es werden auch keine Gläser in der Stube aufgefunden, auch nicht in der Küche, wo sie in eigens dazu bestimmten Schränken versorgt sind. Im Speisezimmer befinden sich saubere Gläser, die in eigens dazu bestimmten Möbeln aufbewahrt sind. Man kann nicht sagen, dass Tage nach dem Verbrechen Aufenthalter da waren, da in der Zwischenzeit an der Wohnung Estermann die durch den Richter disponierten Siegel angebracht waren (Rapport I).

Die einzigen Personen, die um 21 Uhr in der Wohnung Estermanns sich aufhielten, waren demzufolge Oberst Estermann, Frau Estermann und Vizekorporal Tornay. Es ist jetzt möglich, mit der

Rekonstruktion der Ereignisse

zu beginnen:

Schon die sachverständigen Gerichtsärzte, Prof. Arcudi und Fucci, haben in ihren allgemeinen, abschliessenden Berichten festgehalten (Rapport XII, Seite 255), dass sich zu

Beginn der Aktion

der Oberst im Zimmer aufgehalten habe. Wahrscheinlich sass er auf dem Bürostuhl mit dem Rücken zur Glastür, halb verdeckt durch das Sofa mit dem Fernseh-Bedienungsgerät in der rechten Hand (Wahrscheinlich hat er es kurz zuvor betätigt, um den Fernseher abzustellen.) und mit dem Telefonhörer am linken Ohr. Diese These wurde bestätigt in der Aussage von Herrn …, angeführt im vorgängigen Rapport. Tatsächlich sind alle Elemente einstimmig und lassen ableiten, dass Oberst Estermann um 21 Uhr tatsächlich mit seinem Freund am Telefon war …, und dass er daher den Fernseher abgestellt hatte, das Leuchtsignal aber in Funktion liess.

Aufgrund der Gestaltung der Räume, der Disposition der Möbel (vor allem das zweistöckige Bett), der Position und der Lage der Leiche haben die Prof. Arcudi und Fucci festgestellt, dass Tornay

durch die Glastür in das Studio eingetreten

sei. Somit muss Tornay das Hindernis, welches das Sofa war, umgangen haben und er muss in dem Spielraum zwischen Sofa, Telefontisch und vorderer Wand angehalten haben, d. h. auf der linken Seite von Oberst Estermann. An dieser Stelle sind in ziemlich rascher Folge zwei Schüsse abgefeuert worden (Rapport XII, Seite 3) und sofort darnach weitere drei Schüsse. Unter dem Körper Tornays (vgl. Foto 32 der ersten Aufnahmen, Dok. II, wie auch gemäss des ersten Augenscheins, Rapport V, Seite 11) wurde eine Pistole gefunden: Marke SIG Mod. 1975, Schweizerfabrikat, Kaliber 9 mm, Immatrikulations-Nr. A 1 101 415, mit Auflader, normalerweise mit sechs Patronen ausgestattet, während diese nur eine unverschossene Patrone aufwies. Diese Waffe hat sich als Ordonnanzpistole des Vizekorporals erwiesen, die er erhalten hatte, gemäss Art. 38 des Reglements der Schweizergarde vom 28. Juni 1976. Die dazugehörige leere Revolvertasche wurde im Zimmer Tornays gefunden, und zwar in der linken Schublade des Tisches (vgl. Bestandesaufnahme vom 9. Mai 1998, Dok. 8). Anlässlich des ersten Augenscheins durch die Experten (Rapport V) sind auch fünf Patronenhülsen und ein Geschoss gefunden worden, während der Autopsie kamen weitere drei Geschosse zum Vorschein. Bei der zweiten Bestandesaufnahme (Rapport IX) ist das fünfte Geschoss im linken Metallrahmen der Lifttüre, auf dem Treppenabsatz, gefunden worden.

Die

Pistole, die Geschosse und die leeren Patronenhülsen

sind den Prof. Arcudi und Fucci für die ballistische Expertise übergeben worden. Die Experten haben zwei neue Munitionen mit dieser Pistole abgeschossen, einesteils, um das richtige Funktionieren zu prüfen, andernteils, um Vergleichsmaterial für die in Frage kommenden Geschosse und Patronenhülsen zu erhalten.

Die ballistischen Untersuchungen

haben ergeben, dass die zwei Probeschüsse der Experten identisch sind mit den fünf Schüssen aus der halbautomatischen Pistole SIG, Immatrikulations-Nr. A 1 101 415 (Rapport X, Seite 6), identische Perkussionskrater (Zündung durch Stoss und Schlag), identische Mikrostreifen in Zeichnung und Dimension.

Nachdem nun bestimmt worden ist, dass die fünf Schüsse aus der Ordonnanzpistole von Vizekorporal Tornay abgefeuert wurden, ist abzuklären,

wer die Pistole gehandhabt

und wer den Abzug betätigt hat.

Zu diesem Zweck haben die Prof. Arcudi und Fucci die technische Mitarbeit von Dr. Claudio Gentile von der Abteilung Physik der Universität Messina angefordert (Rapport VIII, Seite 10 ff.). Sie gingen auf die Suche nach eventuellen Spuren auf dem Handschuh von Tornay, mit Klebestreifen durch mikroskopische Analyse (international: SEM) und durch Mikrosonden mit Röntgenstrahlen (international: EDX). Die dem Handschuh entnommenen Teilchen Stubs weisen eindeutig auf Schüsse hin und in ihrer Zusammensetzung, Morphologie (Gestaltlehre) und Körnung, perfekt identisch sind mit den Spuren aus den gefundenen Patronenhülsen (Die Proben tragen die folgenden Zeichen: VAT 1 – sample, VAT 2 – sample, VAT 3 – sample und VAT 4 – sample.). Die Experten haben eindeutig festgestellt, dass alle Teilchen auf den analysierten Stubs der Klasse „Spuren von Feuerwaffen“ angehören. Sie haben daraus den Schluss gezogen, dass die Untersuchung positiv ausgefallen sei (Rapport VIII, Seite 12), da die rechte Hand Tornays, besonders in der Hautfalte zwischen dem ersten und zweiten Finger Schussspuren aufgewiesen haben (Allgemeine abschliessende Schlüsse, Rapport XV, Seite 3).

Nach dem Umstand, dass die fünf Schüsse von Vizekorporal Tornay mit seiner Dienstpistole abgefeuert worden sind, kann man an die

eigentliche Rekonstruktion des Ereignisses

das sich in einer kurzen Zeitspanne in der Wohnung des Ehepaars Estermann um etwa 21 Uhr abgespielt hat, schreiten.

In einer ersten Phase der Aktion hat C. Tornay auf Oberst A. Estermann geschossen, der folglich auf den Boden fiel. In dieser Weise hat der Oberst mit der rechten Stirnhälfte auf den Boden aufgeschlagen und ist so, auf der rechten Seite liegend, aufgefunden worden (vgl. Foto-Nrn. 20, 21, 22 und 23 der ersten fotografischen Aufnahmen, Rapport II, Beschreibung des ersten Augenscheins, Rapport V, Seiten 7 – 10). Der Telefonhörer war ebenfalls zu Boden gefallen, wo sich der Apparat befand, es waren auch Blutflecken daran (vgl. Foto-Nrn. 11, 12, 25 und 26, Dok. II, wie auch die Beschreibung im Rapport V, Seiten 5 und 9).

Die Experten Prof. Arcudi und Fucci haben erklärt, dass der erste Schuss Oberst Estermann wahrscheinlich an der linken Schulter getroffen hat. Der zweite Schuss hingegen hat das Opfer am linken Jochbein getroffen, nachdem der Körper eine leichte Drehung nach links ausgeführt hätte. Aufgrund dieses Umstandes erklären sie mit grosser Zuverlässigkeit die Lage der Patronenhülsen, die Eigenschaften der Eingangslöcher, die alle auf einen praktisch senkrechten Einschlag in die Haut deuten, die Richtung der von den Schüssen verursachten Körperdurchdringung. Der erste Schuss von links nach rechts hat eine leichte Abwinklung von unten nach oben, der zweite von vorn nach hinten hat eine leichte Schräge von links nach rechts. Die zweite Richtung ergibt sich aus der Linksbewegung, die das Opfer zwischen dem ersten und dem zweiten Schuss ausgeführt hat (Allgemeine, abschliessende Betrachtungen, Rapport XII, Seite 3).

Die Experten nehmen an, dass C. Tornay während dieser ersten Phase immer dieselbe Position innegehalten habe, darauf deuten einesteils die Schnelligkeit der Schüsse, andernteils die Richtung der Perforationsgänge, die am Körper A. Estermanns examiniert wurde, auf eine statische Position des Schützen hin (Rapport XII, Seite 4).

Frau G. Estermann muss sofort in das Studio eingetreten sein; damit hat die zweite Phase des Ereignisses begonnen. Die Experten formulieren, wie schon erwähnt, zwei Möglichkeiten: Frau G. Estermann wäre durch den Lärm der Schüsse herbeigeeilt oder aber sie wäre C. Tornay, den sie durch die Wohnungstüre hatte eintreten lassen, vorausgesetzt, dass dieselbe nicht schon offen war, gefolgt (Rapport XII, Seite 4). Auf jeden Fall hat Frau G. Estermann die Glastür hinter sich gebracht. Sie hat sich im leeren Raum zwischen Sofa und Vorderwand eingekeilt. Frau G. Estermann befand sich jetzt Vizekorporal C. Tornay gegenüber, der in der Zwischenzeit mit dem Körper eine leichte Drehung nach rechts ausgeführt hatte. Aus dieser Position muss C. Tornay den dritten Schuss abgefeuert haben, der aber leer ging, dessen Geschoss an der Glastür und an der Wohnungstür vorbeiging (beide Türen waren offen), um dann in den Metallrahmen der Lifttür einzuschlagen, wo er während der zweiten Untersuchung gefunden worden war (Rapport IX).

In schneller Folge hat nun C. Tornay das vierte Mal geschossen und hat Frau G. Estermann getroffen, die zusammensank und mit dem Rücken längs der Wand, wo sie angelehnt war, auf den Boden rutschte (vgl. Foto-Nrn. 28, 29, 33, 34, 35, 36, 37, 38 der ersten Aufnahmen, Dok. II, wie auch gemäss der Beschreibung des ersten Augenscheins, Rapport V, Seiten 12 – 13).

Die Experten bemerken, dass Frau G. Estermann wahrscheinlich im Versuch, das Zimmer zu verlassen oder aber, um eine instinktive Verteidigungsstelle einzunehmen, mit dem Körper eine Drehung nach rechts ausgeführt habe, und so ihre eigene linke Seite C. Tornay exponiert hätte. Sie wurde so vom vierten Geschoss in der Gegend des linken Schulterblattes getroffen. Die Professoren Arcudi und Fucci sind überzeugt, dass dies die Richtungen sind, die die Schüsse genommen hatten, sei es der leergegangene, sei es derjenige, der Frau G. Estermann getroffen habe, die Richtung, die von links nach rechts mit leichter Neigung von unten nach oben und von hinten gegen vorne geht. Die Eigentümlichkeit der Körperdurchdringung zeigt an, dass das Opfer im Moment des Schusses die linke Schulter nach vorne und den Kopf nach rechts geneigt hatte. Frau G. Estermann erlitt einen Splitterbruch mit Verletzung des Rückenmarks auf der Höhe des fünften Wirbels mit daraus folgender Tetraplegie [Lähmung], (Rapport XII, Seite 5).

In der dritten und letzten Phase

hat Vizekorporal C. Tornay die Waffe gegen sich selbst gerichtet. Die ersten Probleme, mit denen sich die Untersuchungskommission konfrontiert sah, warfen zwei Fragen auf: Warum ist C. Tornay nach vorne gefallen statt nach hinten, trotz einem, wenn auch leichten Rückschlag der Waffe? Warum wurde die Pistole unter dem Körper des Vizekorporals gefunden?

Die Experten Prof. Arcudi und Fucci haben in der Beschreibung des Selbstmordes geklärt, dass sich C. Tornay wahrscheinlich auf die Knie niedergelassen hat, nämlich mit der rechten Körperseite gegen die Holztür in der Vorderwand und mit dem Rücken gegen das Fenster, den Kopf nach vorn geneigt und, nachdem er die Pistolenmündung in  den Mund gebracht hatte, so geschossen hat.

Das Geschoss, nachdem es den Schädel durchquert hatte, erreichte die Zimmerdecke, wo es einen Einschlag mit Bruch von Verputz verursachte, und ist dann endgültig auf den Schreibtisch gefallen. Der Körper C. Tornays ist demzufolge vorwärts gefallen und verblieb in dieser Stellung, teilweise auf seiner rechten Seite. Die Abfolge dieser dritten Phase findet Bestätigung in der Zersplitterung der beiden oberen Schneidezähne, in der Richtung der Kopfdurchdringungen durch das Geschoss, im Auffinden von Blutspuren und biologischen Geweberesten vom Schädel an der genannten Holztür bis zu einer Höhe von 80 cm (während C. Tornay eine Statur von 1,82 m hatte), in der Ausgangsrichtung des Geschosses aus dem Schädel, in der Lokalisierung des Einschlags an der Zimmerdecke, gegenüber der Position des Körpers C. Tornays.

Im Übrigen haben die Sachverständigen geklärt, dass weitere Beweise für den Selbstmord gerade im Auffinden der Pistole unter dem Körper und in den Blutflecken an den letzten drei Fingerspitzen liegen, von denen man ableiten kann, dass er die Pistole umgekehrt hielt, d. h. mit der Mündung gegen sich, und dass der erste Finger den Abzug getätigt hat (Dok. XII, Seiten 5 und 6, wie auch Dok. VIII, Seite 13).

Im Laufe der Untersuchungen hat sich eine weitere Frage gestellt: Warum hatte das

Ausgangsloch am Hinterkopf

einen Durchmesser von nur 7 mm, während das Geschoss ein Kaliber von 9 mm aufwies?

Die Frage ist an Prof. Fucci weitergegeben worden. Der Experte hat in seiner ergänzenden Relation (Rapport XIX) präzisiert, dass die in Frage stehende Verletzung sternförmig mit sechs Sternpunkten gewesen sei, und dass nur die zentrale Öffnung 7 mm mass, während die strahlenförmigen Einrisse eine unterschiedliche Länge von 4 bis 11 mm aufwiesen. Die Verletzung hatte demzufolge Dimensionen, die von einem Maximum von 18 mm bis zu einem Minimum von 11 mm gingen. Sie war deshalb genau passend zum Ausgangsloch des Geschosses von Kaliber 9 mm, wobei auch die verminderte Kraft beim Schädelausgang berechnet werden muss.

Dass es sich um ein Ausgangsloch handelt, ist gegeben von der Art der Verletzung des Haarbodens und von der Art des Loches im Hinterkopfschädel, das einen Durchmesser von 10 mm hatte und gegen aussen leicht erweitert war. Der kleinere Durchmesser im Haarboden dürfte durch das elastischere Gewebe gegenüber dem Knochen gegeben sein. Prof. Fucci hat daraus den Schluss gezogen, dass es sich um das Ausgangsloch durch ein Geschoss mit Kaliber 9 mm handelt.

Die analytische Rekonstruktion

findet unter anderem Bestätigung und Dokumentation in den Foto-Nrn. 9, 10, 28, 29 und 30 (Dok. II), wie auch in den genauen Beschreibungen, die in den Expertenrelationen nach den ersten Untersuchungen enthalten sind (Relation V, Seiten 10 – 12). Die Theorie, dass eine vierte Person die Hand des schon toten C. Tornay hätte brauchen können, um einen Schuss ins Leere abzugeben, hat somit keine Grundlage.

Die Aktion C. Tornays ist nicht von einem einzigen Motiv inspiriert, sondern von einem

Komplex von Hintergründen

sei es in subjektiver Hinsicht, d. h. in Zusammenhang mit dem Temperament und dem Charakter des Vizekorporals, sei es in objektiver Hinsicht, d. h. in Zusammenhang mit äusseren Einflüssen, unvorhergesehene und unkontrollierbare. Die beiden Motiv-Gruppen haben sich wahrscheinlich miteinander gekoppelt und haben zur fassungslosen Aktion C. Tornays geführt.

Die Autopsie (Leichenöffnung) – § IX retro – hat an den Tag gebracht, dass sich unter dem Schädel C. Tornays

eine Subarachnoidea-Zyste gebildet hatte

die die Grösse eines Taubeneis aufwies (4 x 2,5 cm) und die durch ihren Druck den vorderen Gehirnteil deformiert hatte, teilweise war auch das Schädelgewebe erodiert (ausgewaschen). Die Experten haben erklärt, dass es nicht möglich sei, die Herkunft dieses Gewächses zu kennen, sie begrenzten sich auf die angeborene und infektive (ansteckende) Natur der Zyste (mit Flüssigkeit gefüllte Geschwulst) oder gar auf ein Trauma (starke seelische Erschütterung) in vorgeburtlicher Zeit (Relation VIII, Seite 14).

Angesehene Lektüren in Neurologie (Lehre von den Nerven und ihren Erkrankungen) (R. D. Adams und M. Victor, Principles of Neurology, 3. Ausgabe, Mc.Graw-Hill, Book Company New York, und anderswo 1985,Seite 329 ff.) unterstreichen einerseits die Wichtigkeit dieses Teils des Gehirns, gebräuchlich genannt „organ of civilisation“ (Seite 232), und beschreiben andernteils analytisch die Auswirkungen, die solche Schäden verursachen können. Sie beschreiben vor allem, was uns hier interessieren kann, nämlich den Schaden an der Funktion der Kenntnisse (impairment of cognitive function) und des ungehemmten Betragens (disinhibition of behavior), Seite 329 ff. (…)

Die Professoren Fucci und Arcudi schliessen daraus, dass die Anomalie (Unregelmässigkeit) am linken vorderen Hirnteil ein Mitelement, wenn nicht das Hauptelement für die Betragensstörungen darstellt, vorausgesetzt, dass diese vorgängig tatsächlich beobachtet worden sind (Relation XII, Seiten 7 – 8).

Im Laufe der Untersuchungen sind

zwei widersprüchliche Seiten in der Persönlichkeit

Vizekorporal C. Tornays ans Licht gekommen. Während er einesteils als höflicher und netter Mensch beschrieben wird, der Freundschaften zu pflegen wusste, und der auch einen gewissen Charme ausströmte, wird andernteils ein häufiges ungehemmtes Betragen hervorgehoben, das an Unehrerbietigkeit, Respektlosigkeit und Unverantwortlichkeit grenzt. Es ist hier jedoch der Umstand zu bedenken, dass wir nicht einen einfachen Bürger vor uns haben, sondern einen Mann, der freiwillig die Militärkarriere gewählt hat in einer strengen und antiken Tradition wie der der Päpstlichen Schweizergarde, und in eben dieser Garde war er als Unteroffizier tätig.

Schon in der Offiziersversammlung vom 1. Oktober 1996 waren „singolarités de … comportement“ („Seltsamkeiten im … Benehmen“) ans Licht gekommen, für welche C. Tornay durch den Kommandanten R. Buchs, Vorgänger von A. Estermann, sanktioniert worden war (vgl. retro, § III). Im gleichen Paragraph derselben Relation spricht man von einer heftigen Diskussion (oder heftigen Diskussionen) im Büro des damaligen Vizekommandanten A. Estermann, die C. Tornay mit einem heftigen Zuknallen der Türe beendigte. Des Weiteren ist zu bedenken, dass er ohne Erlaubnis zwei Nächte ausserhalb des Vatikans verbracht hatte. Zu seiner Rechtfertigung sagte er nach dem zweiten Fall, dass er zu viel getrunken hätte und demzufolge eingeschlafen wäre. Im § V derselben Relation wird darauf hingewiesen, dass er, während er rauchend auf einer alten Paradekanone sass, beim Vorbeikommen des Kommandanten sich nicht erhob und denselben grüsste, auch nicht seine Frau. Aus dem Rapport des Kommandanten vom 2. April 1998 (Dok. 65) geht ebenfalls hervor, dass C. Tornay ein Individuum mit „wenig Gleichgewicht“ gewesen sei, „fähig, mit ebenfalls gestörten Personen umzugehen“. Er benahm sich seinen Vorgesetzten gegenüber nicht korrekt (arrogant, vernunftlos).

Nach Ansicht dieses Amtes könnten diese Episoden eine Reihe von Symptomen enthalten, die auf die Anomalie im Gehirn C. Tornays zurückzuführen wären, abgesehen von äusseren, erzieherischen und kulturellen Einflüssen.

Wie schon in § IX angedeutet, haben die Professoren Arcudi und Fucci bei C. Tornay auch chemische und toxologische Expertisen (Toxikologie, die Lehre von den Giften und ihren Wirkungen) durchgeführt in Zusammenarbeit mit dem Chemiker Dr. Furnari (Relation VIII, Seiten 9 – 10). Sie haben im Urin und nicht im Blut, Spuren von Metaboliten (Zwischenprodukte in einem meist biochemischen Stoffwechselvorgang) des Cannabis (Acido-delta-9-tetraidrocannabinoico) nachweisen können.

Die Experten haben in ihrer Relation XII, Seite 8, festgehalten, dass C. Tornay während der drei Stunden unmittelbar vor seinem Tod keinen Gebrauch von dieser Substanz  gemacht habe, und dass er demzufolge nicht die akuten Symptome davon aufgewiesen habe. Änderungen in der Psyche und im Betragen können jedoch nur vermutet werden, wenn ein chronischer Gebrauch von Metaboliten des Cannabis nachgewiesen werden kann.

Die Fahnder haben im Zimmer Vizekorporal C. Tornays, in der Schublade des Tisches, ein Etui mit 24 selbstgedrehten Zigarrenstummeln („mozziconi“) entdeckt, die gemäss den toxologischen Examen Spuren von Cannabis enthielten (Cromotografie, betätigt durch Gascromatografie und Gascromotografie mit Hervorhebung der Masse). (…)

Unter diesen Umständen, auch wenn nicht der volle Beweis dafür geliefert werden kann, ist nicht auszuschliessen, dass C. Tornay ein chronischer Konsument von Drogen war. Diese Möglichkeit könnte das Betragen C. Tornays erklären helfen. Die pharmakologische (Arzneimittelkunde) Lektüre (Goodmann and Gileman’s: The Pharmacological Basis of Therapeutics, 8. Ausgabe, Pergamon Press, New York und anderes, 1990, Seite 551) beschreibt die psycho-toxischen Auswirkungen durch Cannabis und unterstreicht „hallucinations, delusion und paranoid feelings“ („Sinnestäuschungen, Täuschung und geistesgestörte Gefühle“), und fügt bei, dass das Denken konfus (verwirrt, durcheinander) und desorganisiert wird, der Sinn der Unpersönlichkeit und die zeitliche Desorientierung sind verstärkt. Es werden auch Angst- und Panikzustände beschrieben sowie ein gewisses Absinken der Urteilsfähigkeit („loss of insight“). Der psychische Zustand, in dem sich C. Tornay zuletzt befand, und wie er auch rekonstruiert wurde im § XI ff. passt genau in das in den Lektüren beschriebene Bild. Im Besonderen erscheinen  einige Vorkommnisse als klinische Aspekte des Angstzustandes. Denken wir da auch an das Telefongespräch, das C. Tornay um 20.30 Uhr mit dem wenige Wochen zuvor kennengelernten Mädchen geführt hatte. Sie hatte den Eindruck, dass er nicht nur sehr enttäuscht, sondern auch bekümmert und sehr aufgeregt war. Fügen wir da die zeitliche Desorientierung hinzu, um das Bild zu vervollständigen: C. Tornay hat das Mädchen am Telefon gefragt, was für ein Tag es sei, und vorher hatte er in einem Brief an seine Mutter sein Dienstalter falsch berechnet.

Die starke Erregbarkeit C. Tornays hat nicht zu einer besseren psychoaffektiven (seelisch-gefühlsbetonten) Reife als Soldat beigetragen, im Gegenteil, sie bewirkten ein ernsthaftes Absinken der Urteilsfähigkeit („loss of insight“). Des Übrigen ist auch der Eindruck des Mädchens gegenüber dem letzten Telefongespräch bemerkenswert: „Du bist die letzte Person, von der ich mich verabschieden will…, morgen kehre ich heim“ (vgl. Dok. 14).

Auch im Brief an die Mutter erscheinen Halluzinationen, Krisen von Urteilsfähigkeit, konfuses und unorganisiertes Denken (abgesehen vom Gebrauch des Geschlechtsnamens der zweiten Ehe der Mutter), gibt der folgende Satz zu denken: „Je dois rendre se service a tous les gardes – restant ainsi qu’à l’église catholique. J’ai jurer de donner ma vie pour le pape et c’est que je fais“: „Ich muss diesen Dienst für alle Gardisten leisten – wie auch für die katholische Kirche. Ich habe geschworen, mein Leben für den Papst hinzugeben und das mache ich“, wie auch der Verfolgungswahn, an dem er litt („Ce que j’ai fait ce sont eux qui m’ont pousser“: Für das, was ich gemacht habe, haben mich die anderen dazu gebracht“). (Dok. 1/C/1 – Prot. Nr. 11/98 R. P.)

Eine dritte Mitursache subjektiver Art ist die bestehende Bronchitis und Lungenentzündung, die aus dem Ergebnis der Autopsie und dem histologischen Untersuchung hervorging (Relation CIII, Seiten 5, 6 und 14). Trotzdem war C. Tornay an jenem 4. Mai besonders aktiv: Er hatte seinen Dienst hinter sich gebracht. Er war Wache gestanden am Morgen von 6 bis 8 Uhr und am Nachmittag von 16 bis 19 Uhr. Am Vormittag hatte er das Konsulat der Republik Mauritius besucht und am Nachmittag war er drei Mal beim Schneider der Garde (vgl. retro § X). C. Tornay war somit sicher in einem Stresszustand, den er einesteils durch das impulsive Gebaren noch steigerte, sicher eine Folge der Hyperaktivität – siehe Angaben über den zerbrochenen Stuhl (vgl. retro § XI) -, andernteils hat sich so die Situation ergeben, die ihn ohne geistige Klarheit und ohne Kontrolle über seine Erregbarkeit sah.

Nicht mindere, begründete Bedeutung hatten

die äusseren Ereignisse

die C. Tornay nicht voraussehen und die er demzufolge auch nicht hat kontrollieren können. Es war dies vor allem die Nachricht über die Ernennung A. Estermanns zum Kommandanten der Schweizergarde, eine schlechte Nachricht, auf die C. Tornay mit einem „Je m’en fou“ („Mir ist das wirklich egal“) reagiert hatte, da er in Erwartung einer Supernachricht bezüglich einer neuen Arbeitsstelle in der Schweiz war (vgl. retro § X). Des Weiteren hatte er den Bericht erhalten, dass die Verdienstmedaille „Benemerenti“ für seine Verdienste abgelehnt worden war.

Zuletzt, aber nicht als letztes, war der Umstand, dass der … nicht angekommen war (und auch nicht die Journalisten, die er hätte führen sollen), was C. Tornay einen ernsthaften Angstzustand verursachte. In der Zwischenzeit war auch die „Supernachricht“ für einen Arbeitsplatz in der Schweiz immer unwahrscheinlicher geworden. Dieser Umstand muss für seine Zukunft eine entscheidende Rolle gespielt haben.

Gemäss diesem Amt haben sich alle bis anhin beschriebenen Motive untereinander verbunden und haben die Psyche C. Tornays sehr beeinflusst. Wahrscheinlich war er schon von Anfang an nicht ganz im Besitz der notwendigen seelischen Reife. Dass

der psychische Zustand

C. Tornays nicht normal war, findet die Bestätigung in der Art und Weise, wie er das Blutbad angerichtet hatte.

Auch die Professoren Fucci und Arcudi sind überzeugt, dass es sich bei C. Tornay um einen

„Raptus“ (Anfall von Raserei)

gehandelt hat, bewiesen vor allem durch die rasche Reihenfolge der Schüsse, eine Kurzschlusshandlung, die in ihm die Fähigkeit, sich zu bremsen, ganz oder teilweise ausgeschaltet hatte (Relation XII, Seite 8). (…)

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Foto

Aufnahme vom 8. Mai 1998 von Stefan Meier, Wettingen/Berlin, ehemaliger Wachtmeister der Garde

1999, Übersetzung des Untersuchungsberichtes ins Deutsche von Frau Frieda Grandinetti-Widmer, Platania (Catanzaro/I)

Subarachnoidea-Zyste:
https://de.wikipedia.org/wiki/Arachnoidalzyste

Raptus:
https://de.wikipedia.org/wiki/Raptus


Aus der früheren Geschichte der Päpstlichen Schweizergarde:

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Gardist Heiny Wiesenmeyer von Willisau/LU, der bei Nacht und Nebel im Borgo (unterhalb der Gardekaserne) im Jahre 1548 seinen Kameraden Hochstocker aus Zug mit zwölf Messerstichen umbrachte (Paul Krieg, Die Schweizergarde in Rom, S. 65). Ebenso erwähnt sei das versuchte Attentat auf Oberst Robert Nünlist am 8. April 1959 beim Eingang  seiner Kommandantenwohnung (Ehrenhof) durch einen ehemaligen Schweizergardisten.

Redaktion:
Werner Affentranger, Bottmingen BL, 1999
w.m.affentranger(at)intergga.ch