Gerichte, Gesetze, Prozesse, Carabinieri

Der Vatikan, das unbekannte Wesen

Vatikan2: Ort, Grösse, Grenze, Gewalten, Organigramm

Die richterliche Gewalt des Vatikanstaates bilden nach dem Gesetz vom 21.11.1987 vier Instanzen (für den Heiligen Stuhl sind andere Gerichte zuständig):

–   ein Einzelrichter (Giudice unico)
–   das Strafgericht 1. Instanz (Tribunale)
–   das Berufungsgericht (Corte di Appello) und
–   den Obersten Gerichtshof (Corte di Cassazione)

Der Einzelrichter leitete 1998 die Untersuchung im Falle der  Morde Estermann und des Selbstmordes eines Vizekorporals in der Schweizergarde. Dieser Richter konnte unmöglich Spezialisten aus dem Vatikanstaat für die Untersuchungen beiziehen. So war er auf die Hilfe der Republik Italien angewiesen, die er  auf vielfältige Weise sofort bekam.

Die Richter üben ihre Tätigkeit im Namen des Papstes aus. Die einzelnen Kompetenzen sind im Bürgerlichen Gesetzesbuch und dem Strafgerichtsbuch, die im Vatikanstaat gelten, festgelegt. Urteile werden im Namen des Papstes gefällt. Er hat das Recht, in jeder Straf- oder Zivilsache allumfassend einzugreifen. Nach seinem Entscheid sind Rechtsmittel ausgeschlossen.

Wie Sie im Aufsatz 1 gelesen haben, werden im Vatikanstaat und in seinen Hoheitsgebieten viele Straftaten begangen. Hoheitsgebiete sind z. B. die Papstbasiliken Roms. Die Delikte gehen ausschliesslich auf das Konto jener, die bei den über 18 Millionen Jahres-Besucherinnen und -Besuchern ihre langen Finger nicht zurückhalten können. Im Jahre 2008 musste sich die Justiz mit 486 Strafverfahren, das ergibt  mehr als ein Taschen-Diebstahl je Tag, und 549 Zivilprozessen befassen. Generalstaatsanwalt Picardi hebt jedoch hervor, dass in fast jedem Prozess Nicht-Vatikan-Bürger beteiligt sind. Er meint, dass der Anteil der Verfahren, die auf Einwohnerinnen und Einwohner des Kirchenstaates entfalle, weit unter einem Prozent liegt (→Nuzzi, Gianluigi: Fehlendes Material in Millionenhöhe). Trotzdem zeigt das Bild, dass auf Vatikan-Staatsboden auch mitunter etwas gezankt und gestritten wird. – Im Verhältnis zur Einwohnerzahl führt der Vatikanstaat die Kriminalstatistik weiter weltweit an, ja, es wird hier mehr gestohlen als in der brasilianischen Hauptstadt San Paolo.

Bei der Gründung des Staates der Vatikanstadt wurde das italienische Strafgesetz aus dem Jahre 1889 in der damals geltenden Fassung übernommen. Im Jahre 1969 legte man den Stichtag für die Bestimmungen des übernommenen italienischen Strafrechts vom 8. Juni 1929 auf den 31. Dezember 1924 zurück. Warum? In diesen alten Bestimmungen ist die Todesstrafe ausgeklammert, welche in Italien 1926 wieder eingeführt wurde. Anders ausgedrückt, der Vatikanstaat kennt seit dem Jahre 1969 keine Todesstrafe mehr. Die letzte Hinrichtung im Kirchenstaat wurde am 14. November 1868 auf Anweisung von Pius IX. vollstreckt. Es handelte sich um 2 Maurer, die in einer päpstlichen Kaserne in Rom Pulverfässer in die Luft sprengten und dabei 23 Soldaten töteten.

Der Vatikan kann auf seinem Gebiet straffällig gewordene Personen, egal, ob sie dort von der Gendarmerie des Vatikanstaates oder von der italienischen Polizei verhaftet werden, zur Aburteilung an Italien abgeben, welches zur Übernahme verpflichtet ist und dann vatikanisches Recht anzuwenden hat. Nur bei einer vorherigen Flucht auf italienisches Territorium kommt das italienische Strafrecht zur Anwendung. Die schlaue Meinung, als  ertappter Dieb so schnell wie möglich auf das Staatsgebiet des Vatikans zu flüchten, dort verhaftet  und dann milder verurteilt zu werden, trügt.

Noch etwas Einmaliges zur Gesetzgebung. Es erstaunt, dass der Vatikanstaat seit dem 1. Januar 2009 von der italienischen Gesetzgebung gelöst ist. Seit diesem Datum gelten neue italienische Gesetze nicht mehr automatisch auch im Vatikanstaat. Er ändert damit eine Praxis, die seit 1929 bestand hatte. Nach dem erneuerten vatikanischen Gesetz über Rechtsquellen müssen italienische Gesetze und Verordnungen zuerst ausdrücklich vom Vatikanstaat gebilligt werden, um auf dessen Boden Gültigkeit zu haben. Neu ist auch, dass die Vatikanische Rechtsordnung sich künftig am allgemeinen Internationalen Recht und entsprechenden Verträgen des Staatssekretariates orientiert.

Der Vatikanstaat führt übrigens ein Gefängnis für 2 Personen für Einwohnerinnen und Einwohner des Staates, für Pilgerinnen und Pilger und für Touristen. Dieses Gefängnis wird sehr selten genutzt, weil die inhaftierten Personen im Normalfall sofort von der italienischen Polizei in Gewahrsam genommen werden. Der Attentäter Mehmet Ali Agca von Johannes Paul II. wurde am 13. August 1981 nach dem Attentat nie hinter die vatikanischen Mauern gebracht, sondern sofort in ein italienisches Gefängnis überführt.
Die Päpstliche Schweizergarde führte bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts ein eigenes ‚Gefängnis‘. Den sehr, sehr  selten Inhaftierten ging es besser, als denen draussen. Sie  bekamen von den Kameraden und  den Ordensschwestern aus der Küche  reichliche, psychologische Unterstützung und Geschenke in Form von würzigen Salamis und gereiftem Gorgonzola, und, was vor allem zusprach, den köstlichen Frascatiwein. Alle solidarisierten sich mit ihnen, die verschmitzt in den Dienst zurückkehrten.

Sie hörten kurz zuvor von der Gendarmerie des Vatikanstaates,  das andere Mal von der italienischen Polizei. Es handelt sich bei der letzteren um die Italienische Kompanie Roma-San Pietro beim Vatikan. Ihr Büro ist am Ende der rechten Kolonnaden auf vatikanischem Staatsgebiet. Was haben denn diese Polizisten, es sind Carabinieri, hier zu suchen? Nach den Lateranverträgen vom 1929, hier schaffte man mit Hilfe Italiens den neuen Vatikanstaat, ist Italien für die Sicherheit auf dem Petersplatz und rund um den Vatikanstaat verantwortlich. Vor den vier Haupteingängen haben sich Carabinieri positioniert.  Unter beiden Kolonnaden sind mehrere Sicherheitsschleusen, die von Carabinieri bedient werden. Morgens gegen 0700 Uhr warten bereits normalerweise gegen 100 Personen, die unter der rechten Kolonnade kontrolliert werden und anschliessend im Petersdom die Frühmessen besuchen oder den leeren Dom geniessen wollen. Vor den öffentlichen Generalaudienzen am Mittwochmorgen herrscht an diesen Schleusen Hochbetrieb, werden doch in Spitzenzeiten bis 100’000 Besucherinnen und Besucher „durchleuchtet“. Diese Polizeieinheit, die dem Armee-Ministerium Italiens unterstellt ist, schliesst den Petersplatz um 1100 Uhr nachts. Dann bewegt sie sich hier in 2 Polizeiautos, weil ein Einsatz schnell geschehen muss. Der grösste Durchmesser des Platzes misst immerhin 193 m. Beim Anschlag auf Papst Johannes Paul II. im Mai 1981 stand ein Angehöriger dieser Carabinieri-Einheit, Francesco Pasanisi, im Mittelpunkt, der nach den Schüssen als wohl einziger Fachmann am Jeep „das Heft in die Hand nahm“. Heute marschieren keine Carabinieri in der Escorte mehr mit. Links vom Jeep sieht man jetzt dafür 4 bis 6 vatikanische Polizisten und rechts ebenso viele Schweizergardisten. Diese schweizerischen Schutzengel des Papstes werden für diesen Nahschutz in der Garde-Rekrutenschule und im Sicherheitsdetachement des Bundesrates in der Schweiz ausreichend ausgebildet. 

Dieses Amt der Carabinieri beschäftigt sich auch mit anderen Angelegenheiten wie den Aufenthaltsbewilligungen für ausländische Ordensleute für das italienische Staatsgebiet und ist in besonderer Weise für die Sicherheit des Papstes zuständig, wenn sich dieser auf italienischem Staatsgebiet aufhält.

Liebe Leserin, lieber Leser, Sie haben  von Salami und Gorgonzola gelesen. Deshalb lade ich Sie das nächste Mal ein (Vatikan 3), sich mit mir im Supermarkt des Vatikanstaates umzusehen. Lassen Sie sich von mundendem Österreich-Butter und charaktervollem deutschem Bier  überzeugen.
© Werner Affentranger